Freitag, 8. Juni 2018

Jerusalem - angeregte, angestrengte, nachdenkliche Eindrücke

Nach Paris/Frankreich, San José/Costa Rica, Tegucigalpa/Honduras, Havanna/Kuba, Istanbul/Türkei und Kairo/Ägypten ist Jerusalem nun eine weitere und die letzte Landeshauptstadt unseres Freijahres.

Wir stürzen uns dieses Mal zu Fuß ins Getümmel, anders geht es in der Jerusalemer Altstadt nicht. Von unserem Stadtteil (Ge'ula / ultra-orthodoxes Viertel; dass wir hier wohnen, wussten wir vorher nicht - unten mehr) ist das Damaskus-Tor unser nahegelegenstes Stadttor, das zunächst ins arabische Viertel führt.

Wir besuchen Plätze, die wir vor 35 Jahren schon kannten, nehmen "Witterung" auf, Tempelberg, Klagemauer, Ölberg, Via Dolorosa, Grabeskirche... und staunen wie damals über die Vielzahl der Lebensentwürfe, Religionen und Menschen auf kleinstem Raum. Bereits der Landstrich Israel/Palästina ist eine kleinräumige Zone der Erde, in der sich so viele Sehnsüchte seit alter Zeit ballen, und in Jerusalem ist dasselbe nochmals in klein innerhalb einer Stadt. 
Es ist wieder einmal schwer fassbar, noch schwerer in Worten, überwältigt uns, berührt, bewegt, aber strengt auch an. Und abends tun uns die Füße weh vom Laufen.


Drei ultra-orthodoxe Herren auf ihrem auch bei anderen Religiösen oft beobachteten eiligen Weg (ein langsamer Gang ist vielleicht bereits Müßiggang?) Richtung Damaskustor. Da wehen (genau hinschauen) sogar die Schläfenlocken im Wind! 



Hauptstraße durch Mea Shearim, ultra-orthodoxes Stadtviertel. Hier hindurch geht unser Weg jeden Tag. Bilder wie aus dem osteuropäischen "Schtetl" , und daher kommt die Kleidungsart und Glaubensausrichtung ja auch. Wir werden als Passanten nur für Sekundenbruchteile angeschaut, dann schaut man weg, ignoriert uns. Bei mir als Frau, trotz züchtiger langer Hose und langer Bluse, zischen manche Männer vor Schreck, wechseln rasch die Straßenseite oder drehen sich abrupt weg. Erst nehme ich's noch mit Humor, bin am zweiten Tag dann aber doch genervt und auch aufgewühlt von solchem unsozialen Verhalten. 
Letztlich können einem die Leute leid tun, da ihnen moderne Bildung vorenthalten wird, sie in totaler Geschlechtertrennung leben und eine Frau ihnen die inkarnierte Versuchung ist. Nach der Eheschließung aber, wenn man dann fruchtbar sein darf und sich mehren soll, bekommen die Frauen durchschnittlich acht Kinder! Die orthodoxe Bevölkerung hat sich von 1% vor wenigen Jahrzehnten auf inzwischen 10% der Bevölkerung vermehrt, Tendenz rasch steigend. Und sie nehmen durch Seilschaften eben auch politischen Einfluss. Wo soll das hinführen?

Damaskus-Tor, einer der Eingänge in die Altstadt


Hier wimmelt und marktet es arabisch.


Die berühmte "Western Wall", Klagemauer, einziger Überrrest des salomonischen Tempels und heiligster Ort der Juden. Dahinter der Tempelberg mit dem goldkuppeligen Felsendom, in arabischer Hand, obwohl auch für die Juden heilig. Hier soll vom Felsen aus die Welt geschaffen worden sein, Adam aus Lehm gemacht, Isaak fast geopfert und später Mohammed gen Himmel gefahren. Schon klar, dass da Interessenkonflikte naheliegen. Der Tempelberg ist massiv von israelischen Soldaten bewacht, die auf ziemlich unfreundliche Art dafür sorgen, dass Essen und Trinken wg. arabischem Ramadan draußen bleiben und man nackte Arme und Beine bedeckt. Israelisches Militär sorgt für Einhaltung muslimischer Regeln. Eine der komplexen Realitäten im Heiligen Land.


An der Klagemauer herrscht ständig reges Treiben. Die orthodoxen Frauen sehen so altmodisch und altbacken aus, turbanähnliche Hauben, dunkle Röcke, klobige Schuhe, und meist eine Traube keiner Kinder um die Kinderkarre. Während die Männer sich dem Thorastudium widmen, sind Frauen für Kinder, Haushalt und meist auch noch das Geldverdienen zuständig, da die Männer kein Einkommen haben. Entsprechend ist die Armut natürlich groß.

Ein Teil der Männerseite der Klagemauer ist zu einer Art Halle gemacht. Heimliches Foto von Ron während seines Besuches dort...

... und draußen noch einmal Gestalten wie vor 200 Jahren.


Ritueller Waschungsbrunnen, vor Beginn des Gebetes zu benutzen. 
Im Hintergrund die Frauenabteilung der Klagemauer. Ich habe dort zweimal einige Zeit verbracht, gestaunt über die Inbrunst der Gebete dort, habe es für mich als stillen Ort empfunden und das Stehen an der Mauer mit dem Anfassen und Halten am Stein als besonderen, innigen Moment empfunden. 
Für mich selbst sind Konfessionalität und enge Glaubensvorschriften nicht wesentlich, obwohl ich durchaus ein sehr spiritueller Mensch bin. Ich empfinde immer wieder, dass letztlich alles aus einer Quelle kommt und würde mir wünschen, dass die Menschen untereinander dieses Gemeinsame mehr sehen können als das Trennende. Na ja, und ich sehe immer wieder, dass vieles mit mangelnder Bildung und mangelnder Freiheit vor allem der Frauen zu tun hat. Und da streikt in mir als weiblicher Mensch, als Lehrerin, aber auch als grundlegend humanistisch orientierte Person etwas. Marx sagte "Religion ist Opium fürs Volk", mein Empfinden geht eher in Richtung Maßhalten, in dem, was man tut, und selbständiges Nachdenken und dadurch Sinnfindung ermöglichen.
Ich zünde als äußeres Zeichen an vielen Orten gern ein Kerzlein an und nehme dies als stilles Bild für das Licht in der Welt, zu dem wir alle hinblicken können. 


Der wunderschöne Felsendom. Oben komme ich mit zwei älteren muslimischen Herren ins Gespräch über, sprichwörtlich, Gott und die Welt. Das macht Freude und ist so viel schöner als ignoriert und gemieden werden... 


Ron schaut sich inzwischen einen großen aktuellen Ausgrabungsbereich tief unter der Stadt an, wo ganze Hallen, Straßen, Gewölbe u.v.m. freigelegt werden. Die ewige Stadt hat noch so viele verborgene Schätze. Allein an der unterirdischen Verlängerung der Klagemauer kann man mit einer Führung fast 500 (!) Meter weit tief unter der Stadt entlanggehen. Die offene Klagemauer dagegen ist nur 80 Meter lang. 


Und gegenüber der Ölberg, mit weitläufigem jüdischen Friedhof und
2000 Jahre alten Ölbäumen im Garten Gethsemane, in dem laut biblischem Bericht Jesus seine letzten Stunden vor Verrat und Verhaftung verbracht hat.


Immer wieder genieße ich diese sprechenden Momente in der Natur. 
Schön auch zu sehen, wie der Garten Gethsemane gepflegt wird.


 Steinschriftsetzung auf dem Boden des Gartens.



Vor 35 Jahren haben wir an derselben Stelle auf dem Ölberg Fotos voneinander gemacht, die wir immer noch zu Hause haben. Auch dies ein besonderer, persönlicher Moment, Begegnung mit der eigenen Biographie.



Schließlich die seltsame Grabeskirche mit ihren Abteilungen für alle möglichen christlichen Strömungen, griechisch-katholisch, griechisch-orthodox, franziskanisch, armenisch, russisch-orthodox, koptisch und wie sie nicht alle heißen, und die alle ihren Teil des Gebäudes beanspruchen.  Die Äthiopier haben ihren Teil auf dem Dach der Kirche, wo ein kleine Anzahl Mönche in einfachen Zellen lebt. Damals wie heute irgendwie skurril.

Äthiopisches Mönchskloster auf dem Dach der Grabeskirche.

Zu guter Letzt ein typischer Karren, der mit Waren hoch beladen zur Belieferung der engen Läden in noch engeren Altstadtgassen dient. Gebremst wird auf dem vorderen Extrareifen stehend, der am Boden entlang mitschleift.

Jerusalem ist noch immer eindrücklich, vielfältig, verrückt, ein Brennpunkt in einem Brennpunktgebiet. Sehr intensiv, aber sehr anstrengend. 
Neulich gelesen: Haifa (drittgrößte Stadt Israels im Norden des Landes) arbeitet, Tel Aviv feiert und Jerusalem betet. 

Wir werden Haifa und Tel Aviv noch Besuche abstatten und uns einen aktuellen Eindruck verschaffen. Für Jerusalem können wir dem zustimmen und hoffen, dass das Beten dem allgemeinen Wohl dienen möge.

Unser Weg geht weiter Richtung Galiläa zu dem Behindertenheim, 
in dem wir 1983-84 für ein Jahr als Freiwillige gearbeitet haben.

(von Jessica)

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