Freitag, 20. Oktober 2017

Zuhause in Europa

Unsere Reise mit dem Sprinter hierher hat uns durch viele kleine Ortschaften in Frankreich und Spanien geführt. Vor jeder Mairie und jedem Ayuntamiento, also vor allen Rathäusern, hing neben der Orts- und der Landesflagge auch die Europaflagge, die goldenen Sterne auf blauem Grund.
In den letzten Wochen hat die Diskussion um Europa wieder an Fahrt aufgenommen, da die Katalanen nach Unabhängigkeit streben und ein Referendum durchgeführt haben. Obwohl wir hier in Spanien sind, ist im Leben um uns herum kaum etwas von der Spannung zu spüren, die in Katalonien herrscht, aber Barcelona ist auch 500 Kilometer entfernt.
Beschäftigt man sich mit dem Wunsch der Katalanen und der harrschen Haltung der spanischen Regierung, so ist zu bemerken, dass die Sachlage wieder einmal viel komplizierter ist als anfangs gedacht.
Während ich die Unabhängigkeitsbestrebungen beim ersten oberflächlichen Nachdenken als unvernünftig und antieuropäisch einschätzte, mir aber auch das harte Vorgehen der Regierung unverständlich war, musste ich feststellen, dass die Dinge auch ganz anders gesehen werden können.
Es ist hier oft zu hören, dass auf beiden Seiten sehr viel Druck gemacht und gepuscht wurde. Auch die Beteiligungen an den letzten Befragungen, vor zwei Wochen fand ja nicht die erste statt, zeigten, dass nur einTeil der Menschen in Katalonien an der Frage interessiert ist. Es mag vielen Spaniern wie unserem Steuerberater gehen, der sich darum sorgt, ob die Verantwortlichen es schaffen werden, sich friedlich zu einigen und die Mengen nicht noch weiter aufzupeitschen. Spanien hat im letzten Jahrhundert zwei Bürgerkriege erlebt, die noch im kollektiven Gedächtnis sind. Joaquim setzt große Hoffnungen auf Europa als schlichtende Instanz.
Die nach Unabhängigkeit strebenden Katalanen sind keine Volksgruppe oder religiöse Gemeinschaft, die sich selbst regieren will, sondern es ist eine kulturelle Bewegung, die ihre Wurzeln in der spanischen Geschichte hat. Viele Einwohner Kataloniens sind keine gebürtigen Katalanen, sondern sind erst durch ihren Zuzug dazu geworden. Es geht also nicht darum, einer Menschengrupe größere Freiheitsrechte einzuräumen, sondern eine Region möchte größere Auutonomie.
Dem stehen die Bewegungen eines Nationalstaates entgegen, die Einheitlichkeit eines Landes zu bewahren. Ohne dies beurteilen zu wollen oder zu können, kann man sich fragen, ob die Nationalstaaten, die zumeist politische Gebilde sind, die mit Macht, oft durch Kriege zusammengefügt wurden, noch zeitgemäß sind.
Für mich ist deutlich, dass wir eher mehr als weniger Europa brauchen. In vielen Bereichen sollten wir noch mehr zusammenarbeiten. Der begonnene Weg der europäischen Union und auch des Euro ist richtig und wichtig, wenn auch noch vieles verbessert werden kann. Die Eigenheiten der Regionen, die Sprachen und die kulturellen Unterschiede können dabei erhalten bleiben. Doch muss dann die gesetzgebende Gewalt und beispielsweise die Außen-, Verteidigungs- Finanz- und Wirtschaftspolitik in erster Linie von den Nationalstaaten ausgehen? Könnten nicht übergeordnete europäische Institutionen viel unabhängiger agieren?
Es ist sicher noch ein weiter Weg zu den Vereinigten Staaten von Europa und bei den vielen Problemen, die es zur Zeit gibt, scheint auch ein Scheitern möglich, doch es lohnt sich, dafür zu streiten, wie das die Katalanen tun, die für die Unabhängigkeit auf die Straße gehen, aber auch die, die für die Einheit protestieren; für die Politiker heißt das, mit Bedacht gute Kompromisse entwickeln, die mit Augenmaß das Projekt Europa voranbringen und nicht bremsen, denn die Menschen auf beiden Seiten verstehen sich als Teil von Europa.


(von Ronald)

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